BÖZBERG

BÖZBERG

Ein Schweizer-Land-Krimi. Ab dem 1. November 2023 monatlich 1 Kapitel. 

Von Stephan M. Porchet-Pagnoncini 

KAPITEL 1 - CHRUUT & RÜEBLI

KAPITEL 1 - CHRUUT & RÜEBLI

Kurt Häusermann erfreute sich über die selbst gemachte Erbsensuppe mit Würstchen. Er hatte sich soeben einen Suppenteller damit gefüllt, ein «Lägere Bräu» aufgemacht und sich an den Esstisch gesetzt. Der erste Löffel war immer wieder ein extra Genuss. Ein Schluck kaltes Bier dazu und die Welt, in seinem typischen Aargauer Häuschen in Linn, einem kleinen Ort auf dem Bözberg, war in Ordnung. Er biss in die Scheibe des frischen Brotes, welches er am Morgen beim Bäcker in Brugg gekauft hatte und kaute genussvoll darauf rum. Er starrte aus dem Wohnzimmerfenster auf die nebelverhangenen Hügel mit den gepflügten Feldern. Die zunehmende Dunkelheit zeichnete die weidenden Kühe nur noch als Silhouetten ab und die Färbung war bereits nicht mehr zu erkennen. Aus der Ferne drang ein Muhen zu ihm ins Wohnzimmer, während er weiter gedankenverhangen von seiner Erbsensuppe löffelte und vor sich hin kaute. Ein vorbeifahrender Traktor riss ihn aus den Gedanken. Er fluchte leise vor sich hin. «Ich muss endlich!», sagte er laut. Schon lange wollte er sich etwas passenderes zum Wohnen suchen, doch durch die lange und schwere Krankheit seiner Frau hatte er es aufgeschoben. Über ein Jahr ist es her, dass er sie zu Grabe tragen musste und noch immer schien es, als ob sie hier leben würde. Er brachte es nicht übers Herz und stellte bei jeder Mahlzeit auch einen Teller für Brigitte, so ihr Name, mit auf den Tisch. Auch heute Abend. Fiktiv prostete er ihr mit der Bierflasche zu und sagte: «Brigitte, bei aller Liebe, aber es wird Zeit für mich loszulassen!» Er erhob die Flasche zum Tost, setzte sie an seine Lippen und leerte in einem Zug. «Aaahhhh», schickte er hinterher und löffelte weiter an der Erbsensuppe. Er legte den Löffel zur Seite und klappte sein iPad auf. Er googelte nach Wohnungen im Kanton Aargau und scrollte, während er weiter ass, durch die Vorschläge. Bei einem Angebot blieb er hängen und öffnete die Details. Dann klingelte sein Handy. Polizeihauptkommissar Kurt Häusermann nahm den Anruf von der ihm bekannten Nummer entgegen. «Was gibt`s Joris?», fragte er freundlich den Anrufer. Weiter kam er nicht. Er hörte stumm zu.

 

«Ich komme. Gib mir zwanzig Minuten», sagte Kurt und legt auf. Er schnappte sich seinen Parka und die Autoschlüssel, füllte die Futterschüssel der Katze mit ein paar Brekkies, schloss die Haustüre und stieg in seinen alten Citroën CX Prestige. Er wusste genau wie er zum Cheisacherturm, östlich von Sulz, gelangte. Schon oft fuhr er daran vorbei. Er folgte der Strasse Richtung Bözberg. Kurz vor Dorfeingang bog er links ab und fuhr über das Strässchen in Richtung Sennhütte und weiter via Ampfern Höhe. Nach wenigen Kilometern kam er, über Feldwege fahrend, unterhalb vom Turm an. Bereits war alles von den Einsatzkräften der Polizei und Feuerwehr hell erleuchtet. Er setzte den Blinker links und parkte seinen Citroën neben dem kleinen Weg. Er stieg aus, setzte seinen Hut auf und zog den Reissverschluss seines Parkas ganz nach oben. Ein zugiger Wind blies über die Hügel. Regen prasselte hernieder. Er schloss seinen Wagen und überquerte die abgesperrte Strasse. Er musste noch ein paar Meter zum Turm dem Waldweg folgen. Rauchend kam ihm ein Hüne von einem Mann entgegen. Er winkte Kurt Häusermann bereits zu. Es war Polizeihauptkommissar Joris Janssen, sein Partner bei der Sonderermittlung der Aargauer Kantonspolizei. «Kurt, Kurt», rief ihm sein Kompagnon schon von weitem zu. Häusermann duckte sich unter einem Polizeiabsperrband hindurch und schritt weiter in Richtung Turm. Sie schüttelten sich zur Begrüssung die Hände und klopften sich gegenseitig auf die Schulter. Joris drückte die Kippe auf einem Stein aus, drehte auf dem Absatz um und lief mit Kurt in Richtung Tatort. «Und?», fragte er, «wirklich so schlimm?» «Du wirst es gleich selbst sehen», antwortete Joris und deutete ihm, er solle in den Korb des bereitstehenden Hubretters der Feuerwehr einsteigen. Joris Janssen verriegelte den Korb und gab dem Feuerwehrmann ein Handzeichen. Der Korb erhob sich in die Höhe und schwenkte dabei um einhundertachtzig Grad in Richtung Turm. Der Korb stieg dabei weiter in die Höhe. Kurt Häusermann hob seine rechte Augenbraue als er die Situation verstand und langsam, aber sicher die mit künstlichem Licht hell erleuchtete Szenerie überblickte. «Schlimm» murmelte er. «Ja», entgegnete Joris. Den beiden Sonderermittlern bot sich ein schauderhaftes Bild auf knapp zwanzig Meter über Boden und aus einer Distanz von ungefähr zehn Metern. An der Südseite des Turms war aussen am Geländer ein männlicher Kopf, auf der Nordseite der Torso, auf der Westseite die beiden Beine und schliesslich, Richtung Osten schauend, die beiden Arme befestigt. «Kreativ» kommentierte Kurt Häusermann die Situation. «Kreativ, das muss man dem, der oder den Tätern lassen!»

 

Joris Janssen grinste heimlich über den Kommentar seines Partners und ergänzte sachlich: «Nach dem ersten Test der Gerichtsmedizinerin ist der Todeszeitpunkt so gegen dreiundzwanzig Uhr gestern Abend zu definieren. Ungefähr.» Kurt nickte. «Und wann wurde diese Installation entdeckt Joris?» «Vor knapp einer Stunde. Von einem vorbeifahrenden Bauern. Er wartet unten im Zelt.» Er deutete mit der Hand nach unten, während sich Häusermann über den Korb lehnte, dem Feuerwehrmann ein Zeichen gab auf den obersten Punkt, der mit dem Kopf, zuzufahren. Dabei sagte er: «Schon interessant. Da hängt den ganzen Tag ein solches Arrangement an einem Turm und keiner sieht was? Waren keine Wanderer unterwegs heute? Keine Drohnenflieger oder Pärchen die sich heimlich hier treffen wollten? Was für eine scheiss Gesellschaft, glotzen alle nur noch in die Röhre oder ins Handy. Keiner macht mehr die Augen auf. Echt zum Kotzen!» Janssen nickte Kurt stumm und andächtig an. Sie hielten sich am Geländer fest, da der Ausleger in dieser Höhe bei jeder Bewegung stark ruckelte. Häusermann hatte seinen Blick starr auf den enthaupteten Kopf gerichtet und sagte plötzlich: «Was hat denn der da im Mund?» Der Kopf kam immer näher und man konnte deutlich erkennen, dass dem Toten etwas aus dem Mund ragte. Je näher sie herangefahren wurden, desto deutlicher konnten die beiden Kommissare es erkennen. «Eine Karotte», riefen beide im Chor und schauten sich verdutzt an. Joris machte mit seiner Handykamera verschiedene Aufnahmen, während Ruben den Feuerwehrmann dirigierte den Korb einmal so nahe wie möglich an alle Positionen des Turms zu fahren. Nachdem sie die Fotos gemacht und wieder sicheren Boden unter den Füssen hatten, gab Joris Janssen den Cheisacherturm den Männern von der Spurensicherung frei. «Wo ist der Bauer?», fragte Kurt. «Da drüben, im Zelt», antwortete Janssen. Sie liefen auf das Notfallzelt zu und Kurt Häusermann schob mit der Hand die Plane zur Seite. Auf einem Regiestuhl mit der Aufschrift «AARGAUER POLIZEI» sass verkümmert Urs Brühlmann, ein Bauer aus dem, nur wenige Meter entfernten, Cheisacherhof. «Guten Abend, Herr Brühlmann», sprach Kurt Häusermann den Mann ruhig an. «Dann erzählen sie mal», fuhr er fort. Kaum angesprochen sprudelte Urs Brühlmann wie ein Wasserfall. «Ich fuhr mit dem Traktor wie immer nach Hause um diese Zeit. Dann fielen mir die vielen Krähen auf, welche wie wild um den Turm kreischten und kreisten.» Er war nicht zu stoppen. Janssen und Häusermann machten sich derweil Notizen und schauten den Bauern gespannt an. Kurt machte eine nickende Kopfbewegung, um ihm zu signalisieren er möge mit den Erläuterungen fortfahren. Brühlmann schnappte nach Luft und erzählte weiter: « Ich konnte nicht erkennen, was da am Turm hing, aber es interessierte mich. So fuhr ich mit dem Traktor den Feldweg hoch, stieg aus und lief hoch zum Turm. Dann machte ich mit Eckel und Schrecken den grausigen Fund. Es muss Benno Erdin sein. Ich bin mir fast sicher. Das Tattoo an den Armen und Beinen. Nein. Ich bin mir sicher. Es ist Benno Erdin, ich kenne ihn vom Turnverein.» Er schaute aufgeregt zu den beiden Ermittlern hoch. Kurt Häusermann und Joris Janssen schauten sich beide verunsichert an. Joris hakte nach: «Und da sind sie sich ganz sicher?» «Zu einhundert Prozent. Das ist der phlegmatische Weinbauer aus Gansingen. Ein Dickschädel wie er im Buche steht. Unkooperativ und macht immer sein eigenes Ding», erklärte Urs Brühlmann resolut. «Wir werden ihre Aussagen überprüfen. Danke, das wäre es für das Erste. Bitte bleiben sie für uns erreichbar. Hier ist meine Karte. Wenn ihnen noch etwas einfällt, dann rufen sie mich bitte an. Jetzt können sie nach Hause. Sollen wir sie begleiten lassen?», fragte Häusermann. Brühlmann schüttelte den Kopf. Stand auf, schlurfte mit seinen Gummistiefeln in Richtung Ausgang, schob die Plane beiseite und zündete sich vor dem Zelt eine Zigarette an.

 

Die beiden Kommissare waren gerade im Gespräch mit dem Leiter der Spurensicherung, als sie hörten, wie Urs Brühlmann seinen Traktor startete und in der jungen Nacht verschwand. Zeitgleich klingelten beide Handys der Kommissare. Auf den Displays war zu lesen: «EINSATZLEILTUNG». Sie nahmen den Anruf miteinander entgegen und waren mit dem Beamten am anderen Ende in einer Konferenzschaltung. «Kurt hier», sagte Häusermann und sein Kollege konterte: «Joris auch!» «Gut», sagte die Stimme der Einsatzzentrale. «Wir haben bereits einen weiteren Leichenfund in der Bruderhöhle in Effingen. Rettungs- und Einsatzkräfte sind auf dem Weg. Der genaue Fundort folgt auf euren Mobiltelefon. Viel Glück Jungs.» «Danke. Verstanden, sind auf dem Weg», antwortete Joris und sie beendeten die Telefonkonferenz. «Deins oder meins», fragte Kurt seinen Kollegen mit einem schelmischen Blick und kannte die Antwort bereits. «Meins, dann kommen wir heute noch an», kam es von Janssen wie aus der Pistole geschossen. Sie grinsten sich an und verliessen den Tatort beim Cheisacherturm. Janssen hatte seinen «POLE STAR 2» oder wie ihn Häusermann immer nannte: «Das Raumschiff» direkt auf dem Feldweg geparkt. Sie gingen eilends zum Wagen. Wie von Geisterhand öffneten sich beim Heranlaufen die Türen von selbst. Sie stiegen ein, schnallten sich an, Janssen drückte auf das Gaspedal und geräuschlos rollte das Elektroauto los. Er übertrug die Adresse mit einem Wisch auf das Navigationssystem, drückte auf «Route starten» und beschleunigte. Die beiden Kommissare wurden wie bei einem Start eines Kampfjets in die Sitze gedrückt, ein Gefühl welches Häusermann immer mit «ultimativ» bezeichnete. Zehn Minuten später waren sie bei der Bruderhöhle in Effingen.

 

Kaum geparkt, stürmte Joris Janssen aus dem Auto, zündete sich eine Kippe an, während Kurt Häusermann es weniger eilig hatte. Er überblickte die Situation einen Moment wartend aus dem Auto. Janssen steuerte direkt auf die Kollegen der Spurensicherung zu. Nach einem kurzen «Hoi» fragte er: «Na, was haben wir denn heute zum Zweiten schönes?» Der in einen Schutzanzug bepackte Beamte zog mit der, in einen blauen Latexhandschuh eingepackten, rechten Hand seinen Mundschutz über das Kinn und schaute Joris erstaunt an. «Schönes?», fragte er verblüfft und meinte weiter: «Wenn du das schön findest, dann weiss ich auch nicht was dir fehlt.» Er deutete mit der rechten Schulter in Richtung der Höhle. Diese war gegen allfällige neugierige Blicke mit weissen Tüchern abgeschirmt, Polizisten patrouillierten mit Hunden umher und suchten den nahen gelegenen Wald nach Spuren ab. Gerade als Kurt zu Joris stiess, fuhr der Einsatzwagen der Polizeikletterer am Schauplatz auf. «Bitte nicht in die Höhe», stöhnte Janssen. «Magst du nicht, eh?», fragte Häusermann seinen Kompagnon. Dieser schüttelte den Kopf. «Kindheitstrauma», entgegnete er knapp. Sie traten hinter den Sichtschutz in die Höhle. Janssen taumelte beim Anblick rückwärts und konnte gerade noch von Kurt aufgefangen werden. Joris spürte Übelkeit aufsteigen, versuchte sich allerdings so gut es ging zusammen zu reissen. Der Anblick des Toten war grotesk. Der nackte, männliche Körper hing einer Gallionsfigur gleich in der Mitte der Höhle und war sauber vom Kopf bis zum Ende des Körpers halbiert. Er hing an einem Haken, welche Kletterer zur Sicherung benutzten. «Organisiert eine Hebebühne», zischte Kurt Häusermann die Beamten an. Ein Polizist nickte ihm zu und orderte das Gewünschte per Funk. Die Höhle direkt unter dem Toten wurde mit ultraviolettem Licht abgeleuchtet. Die Spezialisten suchten so nach verwertbaren Spuren. «Der Fundort ist zu Einhunderprozent nicht der Tatort», sagte eine Frauenstimme von hinten zu den zwei Ermittlern. Sie drehten sich überrascht um. Barbara Stocker stand direkt vor ihnen. Die waschechte Fricktalerin war eine der erfolgreichsten Rechtsmedizinerinnen der Schweiz und die Koryphäe schlechthin. Joris war froh das ihm vertraute Gesicht zu sehen. Seine Übelkeit besserte sich schlagartig. Häusermann schaute entnervt zur Seite, griff in die linke Tasche seines Parkas, nahm eine Metallschachtel mit Zigarillos hervor, entnahm eine und zündete mit dem Feuerzeug in der anderen Hand den Glimmstängel an. Häusermann und Stocker mochten sich schlicht und ergreifend nicht. Ein um mehrere Jahre zurückliegender Fall entzweite die Beiden. Dafür war die Sympathie zwischen Barbara und Joris umso herzlicher. «Wie kommst du darauf?», fragte er. «Zu sauber, zu arrangiert und vor allem kein Blut weit und breit. Weder auf den Felsen noch auf dem Boden. Der Tote wurde hierhergebracht und in dieser Position drapiert.» Sie zeigte mit dem Finger auf die Leiche am Felsen. «Spuren? Fehlanzeige. Da scheint sich jemand sehr gut auszukennen, wie er oder sie so etwas vertuschen muss», fuhr sie fort. «Ach, und übrigens, dass hier wurde in seinem Mund gefunden.» Sie hielt den beiden Ermittlern eine Plastiktüte unter die Nase. Darin lag eine, zirka 20 Zentimeter lange, Karotte inklusive Grünzeug. Joris Janssen rümpfte die Nase. «Na bravo, Doppelmord.» Kurt Häusermann kniff die Augen zusammen und stapfte davon. «Der hat ja mal wieder gute Laune», konsternierte Barbara Stocker. Janssen zuckte mit den Schultern und meinte: «Immer noch seine Frau. Er kommt nicht darüber hinweg.» Die Gerichtsmedizinerin zog die Augenbrauen hoch. «Wenn du das sagst? Und was ist jetzt mit der Möhre?» Der Polizist hielt die Tüte vor sein Gesicht und zündete von hinten mit seiner Taschenlampe dagegen. «Hm, ausser dem Abdruck des Gebisses ist optisch nichts zu erkennen», stellte er fest und gab das Fundstück Barbara Stocker zurück. «Wird wohl eine lange Nacht, was?», fragte er leicht schüchtern, starrte zu Boden und scharrte verlegen mit dem rechten Fuss auf dem Höhlenboden Steine zur Seite. «Darauf kannst du wetten», lachte die Fricktalerin. «Sag mal, müsst ihr nicht den Zeugen befragen?» Janssen zuckte zusammen, verabschiedete sich mit einem «ciao, bis bald» und trottete zu seinem Partner. Kurt Häusermann stand neben einem, auf einer Bank sitzenden, Jogger im Trainingsanzug und hielt sein offenes Notizbuch in der linken Hand. Joris gesellte sich horchend dazu. Er liess ihn weiter machen.

 

«Also nochmal. Zufälligerweise sind sie hier vorbei gelaufen ohne etwas Bestimmtes in der Höhle zu wollen?» Häusermann fragte genervt, aber der Freizeitsportler antwortete seelenruhig: «Ja, ich renne diese Strecke mindestens drei Mal pro Woche. Und jedes Mal mache ich einen kurzen Abstecher in die Höhle. So aus reiner Neugier.» «So, so, aus reiner Neugier», äffte Kurt den, ungefähr vierzigjährigen Mann, nach. «Dann wäre es das Mal fürs Erste. Sie können gehen.» Häusermann machte eine winkende Handbewegung als Zeichen dafür, dass er gehen könne und wendete sich ab. Er schaute zu Joris Janssen und rollte entnervt die Augen. Janssen wusste, dass er jetzt wohl besser schwieg. Doch Häusermann durchbrach das Schweigen: «Hast du jetzt endlich dein Date mit der Frau Gerichtsmedizinerin?» Janssen musste sich ein Grinsen verkneifen. «Noch nicht», entgegnete der gebürtige Däne. Kurt verdrehte wieder die Augen und wendete sich seinem Kollegen zu, packte ihm am Revers seiner Jacke, zog ihn zu sich hin und sprach mantrisch auf ihn ein: «Joris, so wird das nichts. Jetzt sei nicht so schüchtern, ergreife die Initiative und lade sie endlich auf einen Kaffee ein, wenn du etwas von ihr willst. Mann.» Er schubste Joris zurück und stapfte weiter in Richtung Auto. Janssen blieb einen kurzen Augenblick stehen, schüttelte sich wie ein nasser Hund, rückte seine Jacke zurecht und dachte für sich: «Er hat ja recht.» Beim Auto angekommen stiegen sie ein und schlossen die Türe. «Und jetzt», fragte Joris. «Und jetzt bringst du mich bitte zu meinem Auto und dann fahren wir nach Hause.» Der Däne machte grosse Augen. «Wie, nach Hause?» «Nach Hause», entgegnete Häusermann bestimmt. «Aber wir müssen doch…» Joris konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. «Heute müssen wir gar nichts mehr. Wir brauchen zuerst Resultate der Gerichtsmedizin. Und jetzt los, los fahr.» Er deutete mit der Hand auf die Strasse. Janssen fuhr los. Eine halbe Stunde später sass Kurt Häusermann wieder vor seiner, inzwischen erkalteten, Erbsensuppe in seinem Häuschen in Linn. Die alte Standuhr seines Grossvaters im Flur schlug zweiundzwanzig Uhr. Er holte sich noch eine Flasche Bier und setzte sich in den Ohrensessel im Wohnzimmer. Genüsslich setzte er den Flaschenhals an seine Lippen und genoss einen grossen Schluck «Lägere Bräu». Er sass da im Dunkeln und hörte dem lauten Ticken der Uhr zu. Er vermisste seine Brigitte. Tränen kullerten über seine Wangen. Auf dem Esstisch vibrierte sein Handy. Auf dem Display stand: «EINSATZZENTRALE».

 

Unentwegt summte Häusermanns Mobiltelefon. Er trank in aller Seelenruhe sein Bier. Als die Flasche leer war, warf er sie aufs Sofa. «Ja, ja», schrie er in Richtung Esszimmer. «Ich komme ja schon.» Er erhob sich stöhnend aus dem Sessel und schlurfte zum Esstisch. Zehn Anrufe in Abwesenheit, war auf dem Display zu lesen. Er encodierte sein iPhone. «Oh nein», seufzte er, als las wer in so oft gesucht hatte. In diesem Moment rief die Einsatzzentrale wieder an. «Ja, was gibt’s so dringendes?», keifte er ins Telefon. Die Stimme am anderen Ende schien ihn zu beruhigen und sprach besänftigend auf ihn ein. Informationen folgten. «Wenn es denn sein muss», gab Häusermann unzufrieden von sich. Er schloss das Gespräch mit den Worten «bin in fünf Minuten da». Automatisiert zog er sich die Gummistiefel an, schnappte sich wieder seinen Parka und die starke Taschenlampe. «Was für eine Scheissnacht», sagte er beim Hinausgehen zu seiner Katze, welche ihn von ihrem Körbchen aus auf dem Kachelofen beobachtete. Zufrieden rollte sie sich wieder zusammen als Kurt die Türe mit einem lauten Knall zuzog. Hustend startete sein Citroën. Wie angekündigt stand er fünf Minuten später beim Linner Wasserfall. Wieder waren bereits die Kollegen von der Spurensicherung vor Ort. Häusermann schlupfte unter dem Absperrband hindurch und da war auch sie. Barbara Stocker kam auf den Polizeikommissar zu. Kurt mochte die Frau einfach nicht, anerkannte aber ihr Fachwissen. «Dreimal am gleichen Abend ist viermal zu viel», begrüsste er sie. «Ich freue mich auch dich zu sehen, alter Mann», konterte sie. «Und? Schon wieder ein Möhrenfresser?», fuhr er fort. «Bist du wohl ein Hellseher, was? Und ja, schon wieder.» «Scheisse, und das kurz vor meiner Pension.» «Da musst du jetzt durch, Kurt. Bereit?» Häusermann nickte und war froh, dass er die Gummistiefel angezogen hatte. Er watete hinter der Vierzigjährigen durch den Bach. Die Szenerie war skurril. Das künstliche Licht der Beleuchtungsballone in Kombination mit dem Regen und dem Nebel gaben dem Schauplatz eine ungewöhnliche Dramaturgie. Sie blieben vor dem Wasserbecken des Falles stehen. Stocker zeigte nach oben. Häusermann verzog keine Miene. «Kreativ zum Dritten», war seine einzige Aussage. Und da hing der Tote. Wieder nackt. Kopfüber direkt im Wasserfall. Die Füsse waren oberhalb mit Hanfseilen an Baumstämmen festgebunden. Der Kopf war um den Hals, ebenfalls mit einem Hanfseil, an den Körper zurückgebunden, so dass der ganze Oberkörper nach hinten gezogen wurde und nun als Wasserspeier diente. Denn das Wasser lief über den Anus hinein durch den Körper und schoss über Nase und Mund, in welchem noch eine Karotte steckte, nach unten in das Becken.  «Inszeniert wie eine Brunnenfigur», sagte eine Stimme von hinten. Stocker und Häusermann drehten sich um.

 

Joris Janssen stand plötzlich hinter ihnen und meinte trocken: «Jetzt jagen wir also einen Serienmörder.» Er watete an den Beiden vorbei. «Die Möhre ist eine Botschaft», sagte er mit ernster Miene und schaute dabei auf den Toten Wasserspeier und weiter: «Wir müssen schnellstmöglich wissen, wer die Herrschaften sind, Barbara.» Er drehte sich um und schaute insistierend und gleichzeitig schwelgend zur Gerichtsmedizinerin. «Ich tue mein Bestens.» Jetzt ergriff Häusermann das Wort. «Wer hat ihn eigentlich gefunden?» «Die da.» Stocker zeigte auf eine alte Dame und ihren Hund. «Der Hofhund vom Iberghof hatte wohl auf seinem Streifzug durch sein Revier ziemlich lange den Toten hier angebellt, bis sie ihn gesucht und hier gefunden hatten», ergänzte die Fricktalerin. «Holt den da schnellstmöglich runter», sagte Joris zum Kollegen von der Spurensicherung und deutete mit dem Daumen über die Schulter zum Wasserfall. Dieser nickte und schwirrte ab. Häusermann war bereits zu der Frau gegangen. Sie schienen sich zu kennen, denn Kurt legte beschützend den Arm um die gute Seele und sprach auf sie ein. Janssen beobachtete die Beiden aus Distanz. Häusermann beugte sich auch zum Hund herunter, tätschelte ihn gutmütig und gab ihm etwas aus seiner Jackentasche zu fressen. Der Berner Sennenhund machte brav sitz und schmiegte sich an den Polizeikommissar. Er drückte der Bäuerin einen Kuss auf die Wange, bot ihr seine Hand als Geste der Sicherheit und trottete mit ihr und dem Hund balancierend über die Steine zurück in Richtung der Strasse. Häusermann liess Janssen, ohne ein weiteres Wort zu sagen am Tatort zurück. Joris wendete seinen Blick von dem ungewöhnlichen Paar und dem Hund ab und ging zurück zu Barbara Stocker. Ein paar Augenblicke später hörte er wie auf dem Strässchen Häusermanns alter Citroën hustend und knallend ansprang und Richtung Linn zurückfuhr. «Die kennen sich, sind Nachbarn», sagte die schöne Medizinerin und schmunzelte in unter der Kapuze hervor an. Der Regen prasselte unaufhörlich auf sie herab. Janssen lächelte sie an. «Was meinst du eigentlich zu dieser Serie an Toten? Hast du eine Idee?» Er hoffte auf eine erlösende Antwort. Stocker schüttelte den Kopf, das Wasser tropfte dabei um sich spritzend von ihrer Kopfbedeckung. «Das ist deine Aufgabe Joris. Ich liefere Fakten. Und jetzt geh nach Hause, ruh dich aus und schau, dass du einen klaren Kopf bekommst für morgen. Gute Nacht.» Mit der linken Hand hielt sie kurz seinen Arm fest, drückte ihn am Oberarm und machte eine nickende Kopfbewegung. Dann liess sie los, drehte sich ab und ging zu den Beamten, welche die Leiche bargen. Janssen blieb noch eine Weile stehen, ihm wurde ganz warm bei der Berührung. Dann drehte er auf dem Absatz und ging ebenfalls zu seinem Wagen. Er tippte auf seinem Display den Button «nach Hause» und sein Elektrofahrzeug huschte in die nebelverhangene Nacht.

 

Kurt Häusermann brachte Ida Schmid nach Hause auf den Iberghof. Keine fünf Minuten später sass er in der Küche des Bauernhauses, mit am Tisch auch Bauer Hans. Ida stellte drei Schnapsgläser und eine Flasche selbstgebrannten Obstler in die Mitte. Sie füllte die Gläschen randvoll. «Na dann mal auf das arme Schwein», erhob es dabei, die beiden Männer taten ihr nach. Sie prosteten sich zu und setzten an. Auf Ex. Leicht brennend floss der Schnaps die Kehlen hinunter. «Ahhhh», machte Häusermann und hielt ihr das Glas hin. Er machte eine Geste, sie solle es wieder füllen. Sie füllte alle drei. «Und prost.» Sie tranken und schwiegen. Alle drei. Dann durchbrach Hans Schmid die bleierne Stille. «Scheint es wohl verdient zu haben.» Die Schnapsflasche war noch einen Drittel voll. Er griff danach und schenkte sich ein. Häusermann, welcher den über sechzig Prozent Gebrannten langsam, aber sicher spürte, versuchte seine Gedanken in Worte zu fassen: «Drei. Alle drei haben es verdient.» «Drei?» Ida schaute in fragend an. Kurt Häusermann musste rülpsen und hob den Kopf. Er versuchte zu lächeln. «Oops, Polizeigeheimnis. Da ist mir wohl etwas rausgerutscht.» Beim Sprechen nuschelte er und konnte die Worte nicht mehr komplett aussprechen. «Scheissacherturm, Öhle und Wasserall“, gluckste er vor sich hin. Hans schlug die Faust auf den Tisch: „Scheissacherturm, der ist gut. Scheissacherturm», er lacht laut, dass sein Bart zitterte. Dann wurde er auf einen Schlag wieder ernst. «Und das alles auf unserem Bözberg.» Ida, welche Holzscheite in den Kachelofen nachlegte, griff etwas schwankend nach der Stuhllehne und setzte sich wieder. «Darauf trinken wir noch einen», gluckste Kurt, griff zur Flasche und füllte die drei Schnapsgläser. Er erhob seines und sprach in die Runde: «Auf die armen Bözberg Weinbauern-Scheine.» Mit einem Schluck trank er den Obstler. Ida und Hans taten ihm gleich. „Weinbauern-Scheine?“, fragte Hans in die Runde. Kurt musste lachen und gluckste: «Sch… Sch… Schweine, meine ich.» «Aber warum Weinbauern, wie kommst du denn darauf?», fragte Hans.

 

Er hielt den Zeigfinger seiner rechten linken Hand vor den Mund und sagte lallend: «Pssst. Ich verrate dir ein Geheimnis. Einer ist es bestimmt. Und ich verwette meinen alten Citroën, dass die beiden Anderen es auch sind.»   Dann fuhr er mit den Fingern von links nach rechts über seine Lippen, machte mit Zeigfinger und Daumen eine Schliessbewegung und tat so, als würde er einen Schlüssel wegwerfen. «Aber jetzt muss ich schweigen wie ein Grab.» «Morgen erzählst du mir mehr», insistierte Hans. Doch Häusermann schob mit einem zackigen Ruck seinen Stuhl zurück und versuchte aufzustehen. Kaum auf den Beinen musste er sich wieder setzen. Plumpsend liess er sich fallen. «Hans, dein Teufelszeug hat`s in sich!» Er kippte vornüber auf die Knie und kroch auf allen Vieren durch die Küche in Richtung Stube. Hans geriet bei dem Anblick in einen Lachflash und prustete: «Der Linner Polizeihauptkommissar auf Knien. Ha, ha, ha. Machst du jetzt einen Bittgang?» Kurt Häusermann konnte nicht mehr antworten. Er schleppte sich mit letzter Kraft auf das Sofa im Wohnzimmer vom Bauer Schmid. Er rückte noch ein Kissen zurecht und schlief innert Sekunden tief und fest ein. Ida torkelte ihm hinterher und zog eine selbst gehäkelte Decke über den Polizisten. Dann liess auch sie sich in einen Fauteuil plumpsen. Bleierne Schwere überkam auch sie, drehte den Kopf in Richtung Küche und sagte mit lauter, befehlender Stimme: «Hans, Bett. Die Kühe warten morgen früh nicht.» Er brummte etwas in seinen Bart, was sie nicht verstand, blieb noch einen Moment sitzen, trank noch einen Schnaps und erhob sich dann mühsam von seinem Stuhl. Auch er hatte einen schweren, schwankenden Gang. Als er unter dem Türrahmen vom Wohnzimmer stand, traute er seinen Augen nicht. Ida im Sessel und Kurt auf dem Sofa. Beide schnarchten. «Egal», grummelte er und schlurfte zum zweiten Ohrensessel. Er grabschte nach einer alten Schweizer Armeewolldecke, zog sie über sich und machte sich`s ebenfalls bequem. Keine Minute später schnarchte das Linner Trio. Der Hofhund hob kurz den Kopf, verliess bei so viel Lärm sein Körbchen und trottete in die Küche. Es stank nach Schnaps.

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