BÖZBERG

BÖZBERG

 

Ein Schweizer-Land-Krimi. Seit dem 1. November 2023 monatlich 1 Kapitel.

Von Stephan M. Porchet-Pagnoncini 

KAPITEL 4 - VIELLEICHT

KAPITEL 4 - VIELLEICHT

Es vibrierte und vibrierte auf dem Nachttisch. Es verging einen Moment, bis Kurt Häusermann begriff, wo er war. Er tastete sich zum Telefon, nahm es zu sich herüber und hielt seine Hand so weit wie möglich weg. So, dass er mit zugekniffenen Augen entziffern konnte, wer ihn aus dem Schlaf riss. «EINSATZZENTRALE», stand auf dem Display. «Ach nein», schimpfte Kurt und swipte auf seinem iPhone. «Wie spät?», fragte er als erstes. «Null Uhr zwanzig», antwortete die Beamtin am anderen Ende und musste sich das Lachen verkneifen. «Was gibt’s?» Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Häusermann fort: «Die nächsten Toten, stimmts?» «Toter», korrigierte die Polizistin. «Wo», fragte er noch schlaftrunken. «Ruine Schenkenberg.» «Ach nein.» «Die weiteren Details gibt’s vor Ort.» «Muss ich da hin? Heute Nacht?», fragte er liebevoll. Die Beamtin antwortete prompt: «Was für eine Frage, Kurt. Du kennst die Antwort nach so vielen Dienstjahren. Findest du die Ruine?» «Ja, ich habe in der Kirche in Thalheim geheiratet.» «Prima, dann schicke ich dir alles weitere auf dein Telefon. Gute Nacht Kurt.» Er legte auf. Ohne ein weiteres Wort zu sagen und rieb sich die Augen. «Gute Nacht. Was soll daran gut sein.» Er stand auf, watschelte barfuss ins Badezimmer, hockte sich auf die Toilette und pinkelte. Dann schlurfte er ins Nebenzimmer und griff sich ein paar Überhosen, dicke Socken und einen, von seiner verstorbenen Frau gestrickten, Pullover. Sein Pyjama behielt er an und zog sich alles drüber. Die Katze hob, auf dem Kratzbaum liegend, den Kopf, Häusermann kraulte sie am Kinn und sagte: «Ich hoffe nicht, dass das jetzt jede Nacht so zu und her geht. Denn vier fehlen meiner Berechnung nach noch.» Er packte beim Vorbeigehen an der Garderobe noch seine Mütze, den Schal und den Parka und schlupfte in ein paar alte Militärschuhe. Er wusste, dass es bis zur Ruine hoch einen kurzen, aber steilen und, bei dieser Witterung, rutschigen Weg gibt. Er knallte die Eingangstüre hinter sich zu und hockte in seinen tattrigen Citroën. Nach dem dritten Startversuch sprang er an. Hustend, wie immer. Rückwärts setzte er auf die Strasse und fuhr nachts um halb eins röhrend durch Linn. Jeder, der sein Auto hörte wusste, dass Kurt Häusermann wohl wieder einen Nachteinsatz hatte. Das Licht seiner gelben, französischen Scheinwerfer zauberte, in Kombination mit dem Nebel, ein gespenstisches Licht auf die Strasse. Als er an der über achthundert Jahre alten Linner Linde vorbei war, beschleunigte er und fuhr in Richtung Bözberg. Auf der geraden Strecke drehte er die Heizung, das Gebläse und das Radio voll auf. SRF1 spielte die Rolling Stones. Sie röhrten, dass die alten Boxen knisterten: «I can`t get no satisfaction». Kurt Häusermann sang den Refrain aus voller Kehle mit. Er fuhr durch die kalte Aargauer Nacht in Richtung Thalheim.

 

Joris Janssen war noch wach, als der Alarmruf einging. Gerade kam er aus der warmen Dusche und wollte sich bettfertig machen. Anstatt zum Pyjama griff er zu einem Paar herumliegender Jeanslatzhosen. Dann schnappte er sich einen gestrickten Schlabberpullover, strauchelte über seine Hausschuhe in Richtung Flur zum Eingang und griff sich seine Winterjacke. Er überprüfte, ob die Mütze und die Handschuhe noch in der Tasche steckten, schaute in den Spiegel und nickte sich selbst zu. Er wählte auch dieses Mal seine hohen Gummistiefel mit der dicken Profilsohle. Noch einen weiteren Blick in den Spiegel, er richtete seine, vom Duschen noch nassen, Haare, griff in die Schale neben sich und nahm den Schlüssel von seinem Pole Star in die linke Hand. Dann schnappte er sich sein Mobiltelefon, sein Portemonnaie, öffnete die Türe und schloss diese hinter sich zwei Mal ab. Er lief gemächlich zur Garage hinüber, öffnete das Tor und stieg ein. Sein Elektrofahrzeug glitt geräuschlos aus der Behausung. Vor der Garage griff er zum iPhone und wischte die Zieldestination auf das Navigationssystem seines Autos. Er schaltete das Radio ein. Die Rolling Stones spielten: «I can`t get no satisfaction». Er glitt durch die Nacht und war ein paar Minuten später auf dem Schenkenberg. Ein Grossaufgebot an Polizeikräften war bereits vor Ort und ein uniformierter Beamter wies ihm einen Parkplatz an. Janssen winkte freundlich und hielt ihm seinen Dienstausweis durch das geschlossene Fenster hin. Der Kollege nickte und wendete sich ab. Joris schaltete das Fahrzeug aus, nahm einen tiefen Atemzug, griff im Handschuhfach seine Maglite Taschenlampe und stieg aus. Der Wind pfiff garstig und kalt aus Richtung Staffelegg und Wasserfluh. Er zog sich die Mütze über und schlupfte in die Handschuhe. Dann stapfte er los in Richtung Ruine. Gemächlich, denn der Weg zog sich über eine weite Schleife den Berg hoch. Und immerhin galt es knapp einhundert Höhenmeter auf kurzer Distanz zu bezwingen. Die Kälte liess ihn schneller gehen als er wollte. Gerade als er in der ersten Kurve war, hörte er ein Motorengeräusch, welches rasch näherkam. Zwei helle Lichter kamen aus dem Schenkenberger Wäldchen auf ihn zu. Das Geknatter wurde lauter und lauter. Schliesslich hielt ein Quad neben ihm und ein Kollege grinste ihn mit hochgeklapptem Helmvisier an: «Ist bequemer damit. Spring auf.» Joris Janssen liess sich nicht zweimal bitten und hüpfte auf das Gefährt. Der Fahrer klappte sein Visier wieder nach unten und gab gas. Sie fuhren, da er auf dem engen Weg nicht wenden konnte, wieder das ganze Stück zurück. Janssen verdrehte auf dem Sozius die Augen und dachte, dass ihm diese Hilfe auch schon früher hätte angeboten werden können. Er schüttelte den Kopf, liess den Gedanken wieder los, denn er musste sich ganz schön festhalten. Sein Pilot gab ordentlich Stoff den Hügel hoch. Nach einer holprigen Fahrt erreichten sie die Ruine. Die Einsatzkräfte hatten den Tatort bereits weiträumig abgesichert und hell erleuchtet. Der Quadfahrer gab ihm durch den Helm noch einen Hinweis: «Beim Turm.» Janssen nickte und kletterte zielstrebig über den abschüssigen Innenhof. Mit weissen Tüchern war weiter unten vor dem Turm ein provisorischer Sichtschutz erstellt worden, Mitarbeiter der Spurensicherung kamen dahinter zum Vorschein, gingen in ein aufgestelltes Zelt nebenan und verschwanden darin. «Stopp», rief eine weibliche Stimme. «Keinen Schritt weiter.» Janssen schaute sich um und sah eine Frau in einem weissen Overall mit blauen Handschuhen, Mundschutz und Schuhüberziehern. Sie winkte und rief: «Zuerst ins Zelt. Schutzanzug anziehen.» Janssen gab mit der Hand ein Zeichen, dass er verstanden hatte und lief zum provisorischen Unterstand. Er liess sich ausrüsten, zog alles über und verliess anschliessend das Zelt. Die rufende Dame entpuppte sich als Barbar Stocker.

 

Fast zeitgleich mit dem Aufeinandertreffen von Stocker und Janssen, traf auch Kurt Häusermann auf dem Schenkenberg ein. Fluchend stieg er aus seinem Citroën aus und ging direkt auf einen der Spalier stehenden Beamten zu. «Muss ich laufen?», quatschte er ihn von der Seite an. «Guten Abend, Herr Häusermann. Nein, bestimmt nicht, ich organisiere ihnen ein Taxi», sagte der Polizist freundlich. Häusermann zog seinen Filzhut tiefer in die Stirn, nickte und zündete sich eine Zigarillo an. Zum Dank salutierte er dem Kollegen zu. Genussvoll nahm er einen tiefen Zug und dachte über die Toten nach. Was könnte der Auslöser für diese Morde an den Aargauer Weinbauern sein? Er hing seinen Gedanken nach, als knatternd das Quad vorfuhr. Häusermann musste grinsen. «Und das in meinem Alter», schrie er den Fahrer an, da er davon ausging, dass der wegen dem aufgesetzten Helm und dem Motorenlärm schlecht hören konnte. Dieser klappte das Visier hoch, schmunzelte Kurt an und meinte: «Es ist immer irgendwann irgendetwas zum ersten Mal.» Häusermann kletterte auf den Rücksitz. «Festhalten», ermahnte der Pilot und kippte den Gesichtsschutz wieder nach unten. Drei Minuten später war auch der Polizeikommissar bei der Ruine. «Da drüben», er zeigte mit der rechten Hand in Richtung Turm. Häusermann nickte. Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Auch er stapfte über den Ruinenhof. Eine Beamtin kam ihm entgegen. «Bitte ziehen sie sich die Schutzkleidung über», ermahnte sie ihn und wies ihn zum Zelt. Weiss gekleidet, mit hochgeklappter Kapuze, Mundschutz und Schuhüberziehern ausgestattet trottete er zu den Resten des Turms. Er schob das weisse Tuch zur Seite und schritt durch die Öffnung in den runden Raum. Die Mitarbeiter der Spurensicherung hatten überall ihre gelben Tatortmarkierungen aufgestellt und waren am Fotografieren. «Alle Nächte wieder», sprach ihn eine Frauenstimme von der Seite an. Es war Barbara Stocker. Häusermann hob seine rechte Hand zum Gruss. «Und, wo ist denn das Opfer?», fragte er sein Gegenüber. Die Forensikerin zeigte mit dem Finger nach oben und schob ihren Kopf in den Nacken. Häusermann tat ihr gleich. «Heilige Scheisse», entglitt es ihm. Ungefähr in der Mitte des Turms hing wie eine Spinne im Netz der Tote Mann. Er war nackt an Händen und Füssen in gespreizter Form, einem Hampelmann gleich, an braunen Stricken mit dem Gesicht nach oben in den Raum gespannt. Die Seile gingen aus den Turmöffnungen raus, wieder zurück und waren ineinander verwoben. «Karotte?», fragte Kurt. Stocker nickte. «Hmmm», raunzte Häusermann. «Man muss ja schon fast Trapezkünstler sein, um sowas installieren zu können.» «Das braucht vor allem Kraft und Zeit», entgegnete die Fricktalerin. «Wo ist eigentlich Joris?», fragte der Kommissar. «Der schleicht irgendwo draussen um die Ruine herum», entgegnete sie. «Todeszeitpunkt?», fragte er hoffnungsvoll. Barbara Stocker musste lachen. «Zaubern kann ich nicht.» Sie drehte sich auf dem Absatz und machte sich weiter an die Arbeit. Häusermann suchte Janssen. Er fand ihn draussen, lässig angelehnt an der Turm Wand. «Alles klar», begrüsste er Kurt. «Sag du es mir», antwortete Häusermann. «Kreativität kennt keine Grenzen», fuhr er fort. Janssen blickte zu Boden und Kurt bemerkte, wie er nervös rumdruckste. «Alles gut mit dir, Joris?» Dieser nickte nur stumm. «Ich weiss, dass das der vierte Tote innerhalb kurzer Zeit ist. Das schlägt aufs Gemüt. Aber verdammt nochmal wir brauchen jetzt jede Scheissidee wie wir diesen Irrsinn stoppen können, ohne Nummer fünf, sechs und sieben auch an solchen monumentalen Orten zu finden.» In diesem Moment dämmerte es ihm. «Holy shit», fügte er noch an. Dann liess er Janssen, ohne ein weiteres Wort zu sagen, an der Ruinenmauer stehen. Hastig lief er zurück zum Zelt der Spurensicherung und trat ein. «Wo ist Hans Hartmann?», donnerte er gleich los. «Hier drüben», kam es aus dem Nachbarzelt. «Bring eine Karte mit», rief Häusermann durch die Zeltwand. Hans Hartmann kam, mit heruntergeklapptem Mundschutz, zu Kurt herüber. Der Leiter der Spurensicherung klappte sich die Kapuze vom Kopf und die künstliche Beleuchtung spiegelte sich auf seiner Glatze. Der Mittvierziger hielt eine aufgeklappte 1:25'000-er Karte der Region in seinen Händen. «Was gibt’s Kurt?», fragte er interessiert. «Markiere doch mal die Fundorte der Leichen auf der Karte.» Hartmann griff zu einem Leuchtmarker und fing an die Tatorte zu markieren. Cheisacherturm, Linner Wasserfall, Bruderhöhle Effingen und Ruine Schenkenberg. «Und?», fragte Häusermann ungeduldig. «Merkst du was?» Er trommelte nervös mit den Fingern auf der, auf einem Klapptisch ausgebreiteten, Karte. «Und?» Es verstrichen ein paar Sekunden der Stille. «Alles Point Of Interest», sagte der Spezialist. «Und drei weitere Weinbauern werden vermisst. Gehen wir davon aus, dass der oder die Täter die weiteren Opfer ebenfalls an solchen Orten platzieren wird, dann…» Hartmann unterbrach ihn und beendete den Satz. «Dann sollten wir ihm zuvorkommen können und ihn vielleicht auf frischer Tat ertappen.» «Genau», grinste Häusermann. «Und welche POI`s hast du im Kopf», fragte Hans. Kurt räusperte sich. «Davon ausgehend, dass es tatsächlich noch drei Mal so weiter gehen und nur rund um den Bözberg stattfinden würde, dann sollten wir uns auf diese Region konzentrieren.» Er zeigte mit dem Finger auf die Karte. «Heisst», schaute ihn Hartmann fragend an. «Heisst: Auf der römischen Strasse bei Effingen.» Der Chef der Spurensicherung markierte den Ort mit einem orangen Stift. «Dann Ruine Iberg bei Riniken.» Häusermann machte eine Pause, damit der Ort wieder eingezeichnet werden konnte und fuhr fort: «Und hier.» Er tippte mit dem rechten Zeigefinger auf die Linner Linde. «Hmmm», machte Hans und kratzte sich am Kinn. «Hast du eine bessere Idee?», fragte Kurt schnoddrig. «Jetzt, so spontan, gerade nicht. Es ist ein Ansatz. Und ab wann sollen diese Objekte überwacht werden?» «Ab jetzt.» Kurt haute mit der Faust auf den Tisch. Er war sauer. «Es muss etwas gehen, wir werden zum Narren gehalten. Und Hans», er machte eine Pause und schaute seinem Kollegen tief in die Augen. «Ja, Kurt?», fragte Hartmann etwas irritiert. «Kein Wort intern. Zu niemandem. Pro Standort eine Zweierbesatzung zur verdeckten Überwachung. Sonst Nada.» Der Spezialist nickte, zückte sein Mobiltelefon, wählte eine eingespeicherte Nummer und hielt es an sein rechtes Ohr. Nach einem Klingelzeichen hob jemand auf der anderen Seite ab. Hartmann gab die Anweisungen zur Observierung der festgelegten «Points Of Interest» durch und legte auf. «Danke», sagte Kurt Häusermann und hielt seinen rechten Zeigfinger vor seinen Mund. «Psst», machte er, drehte auf dem Absatz und verliess das Zelt. Hartmann hörte nur noch, wie der Kommissar seinen Kompagnon Joris Janssen rief. Doch dieser schien, wie vom Erdboden verschluckt. Kurt entschied sich deshalb den nächtlichen Schauplatz schnellstmöglich zu verlassen. Er orderte den Quadfahrer zur Ruine, fuhr im Sozius zu seiner Franzosenkarre und tuckerte zurück nach Linn. Er musste fit sein, für den nächsten Morgen, denn ihn erwarteten eine Horde Witwen. Er konnte sich noch nicht ausmalen, auf was er sich da eingelassen hatte. Zu Hause in Linn streichelte er seine Katze, gab ihr ein paar Brekkies und legte sich wieder in sein Bett. Die Uhr des Weckers zeigte zwei Uhr achtundfünfzig. «Viereinhalb Stunden», dachte Kurt und schlummerte ein. Der Vierbeiner sprang schnurrend zu ihm aufs Bett, streckte sich, legte sich zwischen Häusermanns Füsse und rollte sich zusammen. Linn schlief.

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