BÖZBERG

BÖZBERG

 

Ein Schweizer-Land-Krimi. Seit dem 1. November 2023 monatlich 1 Kapitel.

Von Stephan M. Porchet-Pagnoncini 

KAPITEL 5 - BOOM BÄNG PUMM

KAPITAL 5 - BOOM BÄNG PUMM

Gerädert stand Kurt Häusermann an der Kaffeemaschine im Polizeigebäude im Brugger Wildischachen. Er hatte sich extra einen grauen Anzug, ein blaues Hemd und eine passende Krawatte angezogen. Sogar frisch rasiert war er. Ungeduldig stand er am Automaten, stütze sich mit der rechten Hand ab und trommelte dabei nervös mit den Fingern auf die Seitenverkleidung. «Mach schon», schnorrte er die Maschine an und konnte das Endergebnis kaum erwarten. Der Becher war noch nicht fertig befüllt, schnappte er sich seinen Kaffee. Er führte den Becher während dem Laufen an seine Lippen, blieb kurz stehen und gönnte sich einen Schluck. «Scheisse», fluchte er, «heiss.» Er balancierte den Becher weiter durch den Flur zu seinem Büro, knallte mit dem Fuss die Türe zu und hockte sich an seinen Tisch. Den Kaffee stellte er auf die Fensterbank, aus reiner Vorsicht. Er wollte damit nicht schon wieder seinen Schreibtisch versiffen. Er griff sich einen Stapel Akten und ordnete die Vermisstenfälle der sieben Aargauer Weinbauern neu. Benno Erdin aus Gansingen, Max Herzog aus Zeihen, Otto Schmid aus Effingen, Beat Fricker aus Schinznach, Peter Sacher aus Hornussen, Rolf Schreiber aus Remigen und Hans Winter aus Villnachern. Es war noch nicht offiziell bestätigt, aber Häusermann ging davon aus, dass der Tote auf der Ruine Schenkenberg wohl Weinbauer Fricker sein musste. Wenn denn die Arrangements, die Reihenfolge sowie das Ablegen der Leichen in der näheren Umgebung des Wohnortes stimmen sollte. Die Forensikerin Barbara Stocker arbeitete sicher mit Hochtouren an der Identifizierung des Toten. Fehlten also noch drei Personen. Kurt musste tief ein und ausatmen. «Hoffentlich seid ihr noch am Leben und werdet nur vermisst», murmelte er. In diesem Moment ging die Türe auf und der Assistent der Forensikerin streckte seinen Kopf hinein. «Morgen Kurt», sagte er und wartete nicht auf eine Antwort des Kommissars. «Ich soll dir ausrichten, dass dein internes Telefon nicht geht und dass der Tote vom Schenkenberg ein Beat Fricker sein soll.» «Danke», entgegnete Häusermann und bemerkte, dass er mit seinem Aktenstapel den Telefonhörer von der Tischstation geschoben hatte und das Besetztzeichen munter vor sich hin hornte. Er legte den Hörer zurück auf die Station. «Sag mal», drehte er sich zu dem Herrn im weissen Kittel um: «Weisst du, wo Janssen ist?» «Unten, der schlich bei uns herum und faselte er wolle den Verhörraum richten.» Dann grinste er Häusermann an. «Der wollte doch nur wieder um Barbara herumschleichen.» Kurt musste lachen und entgegnete: «Bestimmt. Aber danke.» «Ciao», sagte der Kollege und schloss die Türe. «Ciao», flüsterte Häusermann vor sich hin und konzentrierte sich wieder auf die Akten. Er tippte alle sieben Namen der Toten und Vermissten bei Google in die Suchmaschine und drückte «Enter». Binnen dem Bruchteil einer Sekunde kamen die Ergebnisse. Die einzelnen Weinbauern ploppten mit ihren eigenen Webseiten auf. Häusermann scrollte die Seite nach unten. An vierter Stelle erschien der Link zum Branchenverband Aargauer Wein. Er klickte darauf und die Internetseite öffnete sich. Er fuhr mit dem Mauszeiger über die Menüpunkte und fand unter «Weingenuss» den Unterlink «unsere Winzerinnen und Winzer». Hier waren alle, dem Verband angeschlossenen, Weinbauern aufgelistet. Häusermann scrollte langsam die Liste durch. Er fand sie alle. «Hmmm», brummte er und war mit der Suche nicht zufrieden. Es erschien ihm logisch, dass die Weinbauern sich aus dem Verband kannten, aber wenn es der Täter oder die Täterin, oder sogar mehrere, nur auf Winzer abgesehen hätten, dann müssten doch noch mehr als vermisst gemeldete sein. «Was übersehe ich?», fragte er sich selbst und stützte sein Kinn auf die linke Hand und bediente mit der Rechten die Maus. Er klickte sich durch Webseiten und Bilder. Nichts. Absolut nichts war zu finden, was die sieben Weinbauern miteinander verband. Vertieft starrte er in den Monitor und erschrak, als die Bürotüre brüsk geöffnet wurde. „Kommst du, Kurt?“, fragte Joris Janssen seinen Compagnon. „Ja, dann auf in den Kampf.“ Er erhob sich von seinem Drehstuhl, schnappte sich sein Jacket, zog sich dieses während dem Verlassen des Büros an und tappte hinter Janssen her. Sie nahmen das Treppenhaus, um die zwei Stockwerke tiefer zum Verhörraum zu gelangen. Janssen klopfte und öffnete zeitgleich die Türe. Er hielt sie für Kurt mit dem Fuss offen und zog diesen, als Häusermann eingetreten war, galant zur Seite. Die sieben Frauen sassen in Schulbestuhlung in zwei Reihen hintereinander. Vorne vier, hinten drei. Das Licht war gedämpft. Kriminalhauptkommissar Häusermann nahm, wie ein Lehrer, am Schreibtisch vorne platz. Joris Janssen setzte sich an einen Tisch an der Wand. Durch das schale Licht war er nur als Silhouette erkennbar. Er wandte seinen Blick zum Monitor. Dieser beleuchtete sein Gesicht mit einem schwachen, blauen Licht. Er führte Protokoll. Er räusperte sich und nickte Kurt zu, dass sie beginnen konnten. Dann knallte es. Die Wände wackelten, Deckenplatten fielen von oben herunter, das Licht flackerte. Die sieben Frauen kreischten und schrien, was das Zeug hielt. Instinktiv warf sich Kurt Häusermann unter seinen Schreibtisch. Joris Janssen tat ihm nach. «Ruhig, bleiben sie auf ihren Plätzen», rief er in den Raum. Dann noch einen Knall. Eine Explosion und wieder wackelte der Raum. Verputz fiel von den Wänden. Kurz ging das Licht komplett aus. «Alles okay?», fragte Häusermann unter seinem Schreibtisch hervor? Die Frauen blieben zusammengekauert stumm unter ihren Tischchen in der Hocke sitzen. Angst und Panik stand ihnen ins Gesicht geschrieben. «Joris, du kümmerst dich um die Damen, ich schaue nach was da los ist», befahl er seinem Kollegen. Dieser nickte. Sein Kopf war mit Staub bedeckt, er schien eine Ladung Verputz abbekommen zu haben. Er robbte zu den Frauen, erhob sich langsam und versuchte beruhigend auf sie einzureden. Fehlanzeige. Sie begannen sich zu benehmen wie Furien, redeten wild durcheinander und fingen an sich gegenseitig herumzuschubsen. «Ruhe», rief Janssen dazwischen. Kurz war Ruhe, dann ging es weiter. «Ruhe», schrie er nochmals. «Wollt ihr, dass alles umsonst gewesen ist?»

 

Kurt Häusermann rannte, nachdem er die Türe mit aller Kraft aufziehen musste, raus auf den Flur. Trümmer lagen herum, Rauch durchdrang das Gebäude. Kollegen rannten an ihm vorbei. In einer Ecke lag blutüberströmt ein Beamter. Ein herabgefallenes Deckenteil muss ihn übelst am Kopf erwischt haben. Häusermann ging auf ihn zu, zückte sein Telefon und wählte den Sanitätsnotruf. Es klingelte ein Mal. «Schnell, Polizei Wildischachen, Brugg, wahrscheinlich mehrere Verletzte nach Explosion.» Ohne eine Antwort abzuwarten nahm er die linke Hand des Verletzten und drückte diese auf die klaffende Wunde am Schädel. Dann zog er sein Jackett aus, knüllte es zusammen, hob die am Schädel liegende Hand hoch, schob den Stoff dazwischen und sagte dem Mann vertrauensvoll, aber bestimmt: «Hilfe ist unterwegs. Halte durch!» Dann stand er auf und rannte zur Treppe. Die, durch den Feueralarm, ausgelöste Sirene machte einen fürchterlichen Lärm. Kurt tänzelte die Treppe hinunter. Wieder überall Trümmer. Es wurde eine kleine Kletterpartie, aber schliesslich schaffte er es zum Eingang. «Kurt, Kurt», rief eine aufgeregte Frauenstimme. Es war die Forensikerin Barbara Stocker. «Alles gut bei Dir?», fragte sie besorgt. «Ja, alles gut, der gute, alte Schreibtisch im Befragungszimmer hat mich wohl vor Schaden beschützt.» Er grinste. «Was ist passiert?», fragte Barbara. «Ich war unten in meinem Reich. Und dann die Explosion.» «Keine Ahnung. Wohl ein Gasleck. Aber Hauptsache Dir ist nichts passiert», konstatierte er. Dann realisierte er, dass er mit der Forensikerin ja einen ganz normalen Umgang pflegen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand er sogar gewissen Sympathien für die Fricktalerin. Er schüttelte den Kopf, packte sie am Arm und zog sie zum Haupteingang. Dann sahen sie das ganze Ausmass der Zerstörung. Auf dem Parkplatz vor dem Polizeigebäude Wildischachen in Brugg, dort wo der alte Citroën von Kurt Häusermann gestanden hatte, klaffte ein Krater im Boden. Der Hauptkommissar schätze die Tiefe auf mindestens zwei oder drei Meter. Sein CX-Prestige, oder das, was davon noch übrig war, lag in tausenden Teilen weit verteilt auf dem Parkplatz, der Strasse, Wiese, ja sogar bis hoch zu den Bahngeleisen der SBB. Schnell überblickte er die Situation und reagierte sofort. «Scheisse», entfuhr es Kurt. Wieder griff er zum Handy. Dieses Mal wählte er den eigenen Notruf. «Geh ran», sagte er entnervt und schaute nervös zu Stocker. «Kurt Häusermann, Kripo», sagte er wie aus der Pistole geschossen. «Stoppt sofort alle Züge zwischen Brugg und Schinznach. Sofort!» Der Anruf kam zu spät. Die S29, ausfahrend vom Bahnhof Brugg in Richtung Aarau, befand sich zwar in der Notbremsung, donnerte aber dennoch frontal mit der Lok und entsprechendem Tempo in den, auf dem Trassee liegenden, kompletten Frontteil inklusive Motorblock des Citroëns. Barbara Stocker und Kurt Häusermann riefen aus einem Mund: «Neeeeiiiiiinnnnnnnnn!» Sie mussten mit ansehen, wie die S-Bahn in das Fahrzeugteil donnerte. Ein dumpfer Knall. Schotter splittert, metallener Klang, unsägliches Quietschen. Nach ungefähr einhundert Metern kam die Komposition zum Stehen. Mit Glück im Unglück. Die Lockomotive entgleiste, die angehängten Wagen der S29 blieben in den Schienen. Schreie waren zu hören. Wieder griff Häusermann zum Telefon. Wieder wählte der den Notruf. „Kurt Häusermann, Kripo Aarau. Schickt sofort mehrere Sanitätsfahrzeuge zu uns in den Schachen. Zugsunfall, vermutlich mit Personenschaden. Und informiert umgehend die Fahrleitung der SBB.“ Er legte, ohne auf eine Antwort zu warten auf. Fragend suchte er Barbara Stocker. Sein Blick schweifte umher. Er fand sie, bereits auf beim vordersten Waggon des Zuges. Sie versuchte die Türe zu öffnen, ohne Erfolg. Der Polizist rannte in ihre Richtung, um ihr zur Hilfe zu eilen. Er sah, wie ein Kollege von der Streife der Forensikerin mit einem Stück Eisen, welches er vom Boden aufgegriffen hatte, die Türe aufwuchtete. Stocker sprang in den Zug. Häusermann stoppte und blieb stehen. Wieder drehte er seinen Kopf in alle Richtungen. „Wo zum Henker steckt eigentlich Joris Janssen?“, durchfuhr es ihn. Er Schritt den mit Trümmern seines Fahrzeuges übersätzen Parkplatz vor dem demolierten Polizeigebäude ab. Erst jetzt sah er das ganze Ausmass der Zerstörung. Die Fassade wurde arg in Mitleidenschaft gezogen. Fenster waren geborsten und Fahrzeugteile steckten im Mauerwerk. Auf der Höhe, zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk, klaffte ein Loch. Dort musste sich die, nach oben ausweitende, Druckwelle am stärksten gewirkt haben. Da er, ohne nach unten zu schauen weiterlief, stolperte er plötzlich über eine halbe Felge. Er taumelte und war gerade dabei geradewegs auf die Schnauze zu fallen, als ihn von hinten jemand am Sakko packte und noch rechtzeitig am Stürzen hindern konnte. „Da-da-danke“, stotterte Häusermann und drehte sich um. Der, mittlerweile soeben eingetroffene, Leiter der Spurensicherung Hans Hartmann rettete Häusermann vor einer unsanften Landung. „Keine Ursache, warst du wohl etwas abgelenkt, was?“, grinste der Villnacherer. Häusermann lächelte gezwungen zurück: „Gas war’s nicht. Hier gibt’s kein Gas. Findet schnell raus, wer mein Auto in die Luft gesprengt hat.“ „Meine Leute sind schon dran.“ Hartmann deutete mit der rechten Hand hinter den Kriminalkommissar. „Wie immer, so schnell wie möglich. Stets zu diensten.“ Er ging an Häusermann vorbei und eilte zu seinen beschäftigten Mitarbeitern. „Joris Janssen“, schrie Kurt über den Platz und erhoffte sich eine Antwort. „Janssen, wo steckst Du?“ Er rief weiter. Vorsichtig lief er über den Parkplatz. „Janssen“, schrie er weiter. Eine Polizistin kam auf ihn zu. Höflich sprach sie ihn an. „Herr Häusermann?“, fragte sie scheu. „Ja, der bin ich“, antwortete er zackig. „Was gibt`s?“ „Nun, ich habe beobachtet, dass Herr Janssen mit drei weiblichen Personen mit seinem Polestar nach der Explosion vom Platz gefahren ist. Die anderen vier Damen wurden vor ein paar Minuten von einem Taxi abgeholt. Ich hoffe, ich konnte helfen.“ Sie schaute leicht errötet zu Boden. Häusermann klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. „Sehr gut gemacht, sehr gut. Danke. Zufälligerweise haben sie nicht gesehen, wie das Taxiunternehmen hiess?“ Er lächelte die Polizistin in Uniform an. Diese nickte. „Doch, habe ich. Es stand Aare-Taxi auf der Türe.“ „Fantastisch!“ Kurt klatschte in die Hände und umarmte spontan die Kollegin. Jetzt wurde sie noch verlegener. „Aus ihnen wird einmal eine fabelhafte Kommissarin.“ Dann ging er etwas abseits und zückte wieder sein iPhone. Er googelte die Telefonnummer vom „Aare-Taxi“ und wählte die Nummer. Nach einem kurzen Schwatz mit der Einsatzleiterin hatte er das gewünschte Resultat. Jetzt brauchte er ein Auto.

 

 

Joris Janssen führte kurz nach der Explosion die sieben Frauen aus dem Befragungsraum im Gebäude der Kantonspolizei Aargau im Brugger Wildischachen. Die Damen folgten ihm im Vertrauen nach draussen über die, mit Trümmern bedeckte, Treppe. Janssen, der seinen Polestar unüblicherweise nicht auf seinem Parkplatz vor, sondern an der Elektrotankstelle hinter dem Haus abgestellt hatte, ging wie ein Touristenführer vor. Wie Enten dackelten die Frauen hinter ihm her. Bein seinem Wagen versammelte Janssen das Grüppchen und besprach etwas mit ihnen. Dadurch, dass zeitgleich die S29 in die vordere Hälfte des Citroëns von Häusermann krachte und der Lärm der Notbremsung alles überdeckte, hörten nur die sieben Damen seine Worte. Joris telefonierte kurz, dann stiegen drei von ihnen zu Janssen in den Polestar, die anderen vier liefen, unbemerkt infolge des herrschenden Chaos auf dem Platz, seitlich in Richtung der Wildischachenstrasse. Dort warteten sie auf das Taxi. Janssen hingegen fuhr dem Gebäude entlang.  Zuerst in Richtung Aare am Büro der Staatsanwaltschaft vorbei und dann hinter dem Industriekomplex durch und bog, nicht sichtbar für die beschäftigten Kollegen, in die Strasse nach Schinznach ab.

 

Kurt Häusermann schnappte sich die Kollegin der Streifenpolizei, welche ihm den Hinweis über den Verbleib von Joris gegeben hatte, mit samt ihrem Dienstwagen. „Wie heissen sie eigentlich?“, fragte er als sie schon auf der Wildischachenstrasse fuhren keck vom Beifahrersitz aus. Die brünette Kollegin, welche ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, grinste den Kommissar in ihrer Uniform vom Fahrersitz aus an. „Samira Burgstaller. Oder einfach Samira.“ Kurt Häusermann richtete sich im Beifahrersitz auf. Er verspürte seit längerer Zeit wieder Freude. Er lächelte zurück. „Kurt Häusermann. Oder einfach Kurt.“ „Ich weiss“, schmunzelte Samira und weiter: „Es ist mir eine Ehre mit ihnen, äh dir zu arbeiten Kurt.“ „Ganz meinerseits“, entgegnete er. „Äh“, räusperte sich Samira. „Wohin geht es eigentlich?“ „Oh weja“, lachte Kurt verlegen. „Fahr mal zum Römerhof in Schinznach.“ „Alles klar“, sagte sie und tippte den Zielort in das Navigationsgerät ein. „Blaulicht?“ „Nein“, entgegnete Kurt rasch. „Eher Tarnlicht.“ „Verstehe“, nickte Samira Burgstaller und bog beim Kreisverkehr im Bad Schinznach in Richtung Dorf ab. Als sie die Aarebrücke überquerten begann es zu regnen.

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